Das sind die Grenzen der Rhetorik

 
 

Wenn du darüber nachdenkst, dich mit Rhetorik auseinanderzusetzen, stehen vielleicht diese Wünsche im Vordergrund: „Ich will meine Meinung im Meeting durchsetzen können.“ Oder: „Ich will meinen Kollegen mit meinen Argumenten wirklich was entgegensetzen können.“, „Ich möchte einfach so sprechen können, dass alle überzeugt sind.“

Ich unterhalte mich oft mit Menschen, die sich erst noch tiefer mit Rhetorik beschäftigen wollen. Dabei treffe ich auf 2 unterschiedliche Haltungen.

Gut sprechen und authentisch bleiben

Die einen haben selbst die Erfahrung gemacht oder gehört, dass man Rhetorik manipulativ einsetzen könne. Sie machen sich Gedanken, dass dieses Werkzeug Rhetorik sie vielleicht selbst korrumpieren könnte, dass sie sich dann persönlich verändern würden. Hier ist ein zentraler Satz oft: “Ich will ehrlich sein.” Oder: “Ich will authentisch bleiben.”

Endlich all die rhetorischen Tricks kennen, um zu gewinnen.

Die anderen bekommen glitzernde Augen bei der Vorstellung von all den Möglichkeiten, die sich durch Rhetorik für sie eröffnen würden. Endlich all die rhetorischen Tricks und Kniffe kennen, mit denen sich Angriffe abwehren lassen! Endlich in einem rhetorischen Disput nicht mehr der*die Blöde sein, sondern geschliffen kontern, dranbleiben, mit den richtigen Worten gewinnen.

Einflussreich und mächtig werden durch rhetorisches Können.

Rhetorik gilt als das Mittel, um andere von einer Aussage zu überzeugen und zu einer Handlung zu bewegen. Wer ‘gut’ und wirkungsvoll sprechen kann, gewinnt Einfluss und Macht. Wer einflussreich und mächtig ist, dem hören die anderen Menschen wiederum mehr zu: Eine positive Resonanzspirale, die sich immer weiter nach oben schraubt.

Es ist nur zu verständlich, dass man Rhetorik, dieses ‚Zaubermittel der Beeinflussung‘ für sich beherrschen möchte, um es für die eigenen Ziele einzusetzen. Um Einfluss zu nehmen. Um sich durchzusetzen. Und es ist ja wirklich so: Wer gut reden kann, kann viel erreichen. Damit tun sich auch endlose Möglichkeiten auf, die Welt zu gestalten, das Verhalten der Mitmenschen zu beeinflussen. Anscheinend ‘No Limits …’

Oder ist das zu schön, um wahr zu sein? Die Frage, die sich hier stellt, ist: Gibt es auch Grenzen der Rhetorik?

 

Die Frage nach den ‘Grenzen der Rhetorik’ ist uralt.

Die Frage nach den Grenzen der Rhetorik ist so alt wie sie, die ‘Kunst der Rede’, selbst. Schon in der Antike wurde sie gestellt - und sehr unterschiedlich beantwortet.

Der griechische Universalgelehrte Aristoteles sagt: „Rhetorik ist die Fähigkeit, das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen.“ Das Publikum soll durch die Rede zur Wahrheit hingeführt werden. Und zwar von einem wohlwollenden, tugendhaften, guten Redner (in der Antike waren die Frauen auf der Bühne noch rarer als heute, deswegen hier bewusst das generische Maskulinum). Hier gilt das Motto: „Wer ein schlechter Mensch ist, mag zwar auch ein Redner sein, aber ein schlechter.“

Wichtig für Aristoteles: Argumentation. Noch wichtiger: Philosophie und Charakterbildung.

Bei Aristoteles spielen die 3 Überzeugungsmittel Logos, Ethos und Pathos zusammen und markieren eine kooperative Grundhaltung. Wirkungsvoll zu argumentieren war wichtig; wichtiger aber waren Philosophie und Charakterbildung,

Diesem Ideal der Redekunst gegenüber stehen die Sophisten, eine Gruppe von professionellen Rhetoriklehrern und Experten ihrer Zeit. Rhetorik war das wichtigste Ausbildungsfach der Sophisten, wobei sich von ihnen jeder ausbilden lassen konnte, der über das nötige Kleingeld verfügte. Erwerbstätigkeit war damals nicht hoch angesehen: Das machte sie in den Augen der Zeitgenossen, ebenso wie der Nachwelt, verdächtig.

Den Sophisten ging es weniger um Wahrheit, als um die Wahl der ‘richtigen Worte’.

Den Sophisten ging es um ‚rhetorisches Handwerk‘: Schließlich war das Ziel, dass sich von ihnen in der Redekunst geschulte Menschen einen entscheidenden Vorteil in der antiken Demokratie verschaffen konnten; im Parlament oder vor Gericht. Die Überredungskraft der Rede war wichtig, selbst wenn das Gegenüber etwas Falsches oder Widersprüchliches glauben sollte. Das Motto hier war: „Eine Wahrheit existiert nicht oder ist nicht erkennbar – und deswegen ist auch Überredung okay.“

Durch die Wahl der ‘richtigen Worte’ sollte entscheidender Einfluss auf das Denken und Handeln der Mitmenschen ausgeübt werden. Dieser auf Wirkung ausgerichteten Überredungskunst waren keine ethischen Limits gesetzt …

 

Es gibt 3 Grenzen der Rhetorik, die aufeinander bezogen sind.

Ich bin überzeugt, dass es 3 Grenzen der Rhetorik gibt, die wie in einem Dreieck zueinander stehen und aufeinander bezogen sind. Die erste Grenze liegt in den gedanklichen Vorstellungen, Worten, Konzepten - und damit in der Sprache: Was gedacht und im eigenen Gedankenraum formuliert werden kann.

Die zweite Grenze ist in der redenden Person selbst: In dem, was sie mit sich vereinbaren kann, auszusprechen und wofür sie eintritt. Die dritte Grenze der Rhetorik setzt das Publikum, indem es entscheidet, ob und wem es zuhört und Glauben schenkt.

Es gibt erstmal keinen Grenzzaun, es blinkt kein Warnlicht.

Wobei das mit den Grenzen so eine Sache ist: Anders als bei territorialen Grenzen gibt es in der Rhetorik keinen Grenzzaun und es blinkt auch kein rotes Warnlicht auf, wenn eine Grenze überschritten wird. Und das grenzziehende Dreieck der Rhetorik ist keinesfalls (immer) gleichschenkelig: Vielmehr wird von Situation zu Situation eine der 3 Seiten kürzer, die andere länger sein.

Rhetorik ist auch eine zutiefst situationsabhängige Kunst.

 
  1. Grenze der Rhetorik: Die Sprache

Sehen wir uns die Grenzlinien nochmal genauer an und da als erstes die Sprache, die zur Verfügung stehenden Worte. Also das, was Aristoteles als Logos bezeichnen würde. Sprache prägt die Wahrnehmung von Zeit und Raum, von Welt. Im Österreichischen gibt es die sehr praktische Bezeichnung ‘es geht sich aus’, die je nach Kontext unterschiedliche Sachen bedeuten kann, etwa: ‘Dafür ist noch genug Zeit.’ oder ‘Da ist genügend Platz.’

Kübra Gümüşay beschreibt in ihrem Buch ‘Sprache und Sein’ viele Beispiele, wie Sprache unsere Weltsicht prägt. Manche Sprachen verwenden keine Zahlen, andere haben keine geschlechtsspezifischen Pronomen und eine kennt keine Bezeichnungen für links und rechts, sondern beschreibt stattdessen Himmelsrichtungen.

Sprache ist Macht: Das zeigt sich besonders deutlich in der Debatte rund ums Gendern.

Im Deutschen, in der Debatte rund ums Gendern, wird seit Jahren vermehrt die Frage gestellt, wie wir eine Sprache verwenden können, die Frauen und non-binäre Personen zuerst gedanklich miteinbezieht und dann auch sprachlich hör- und sichtbar macht. Auf beiden Seiten des Grabenkampfes ist den Menschen bewusst: Sprache ist Macht.

Und allzu oft wird deutlich, was schon Wittgenstein wusste: “Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.”

 

2. Grenze der Rhetorik: Sie liegt in der sprechenden Person.

Wenn Sprache mächtig ist, dann bedeutet sie zu verwenden eine große innere Verantwortung. Damit sind wir bei der zweiten Grenze der Rhetorik, die in der redenden Person selbst verläuft.

Es ist die Welt der inneren Haltung, der Werte und Bedürfnisse. Hier versammelt sich alles, was das Individuum als gut, richtig und wichtig erkannt hat; für sich selbst und in der Beziehung zu anderen, zur Welt.

Wenn Denken, Sprechen und Handeln auseinanderklaffen …

Niemand steht in der Früh auf und sagt: „Heute werde ich mal so richtig böse sein und jemanden übers Ohr hauen.“ Und doch klaffen Denken, Sprechen und Handeln leider manchmal auseinander. Etwa, wenn jemand verbal behauptet, sich für das Gute einzusetzen – und dabei gedanklich und aktiv handelnd nur die eigenen Interessen verfolgt.

Dann werden andere Menschen manipuliert: Zur Annahme von Meinungen gebracht oder zu Taten bewegt, die für sie selbst zum Nachteilt sind.

Das eigene Ego oder auch das Gemeinwohl im Blick?

Ich bezeichne als gut das, was Leben erhält und das Leben fördert – also immer in positiver Relation zu anderen Menschen, Lebewesen, unserer Umwelt. Das Gute verweist auf ein Ziel, das über die redende Person hinausgeht und das Gemeinwohl im Blick hat.

Dafür ist es notwendig, dass Denken, Sprechen und Handeln auf dem gleichen ethischen Fundament stehen – und nicht aus Eigennutz weit auseinanderdriften.

Der Theranos-Skandal: “Nur ein Tropfen Blut …”

Letztens habe ich mich, ausgelöst durch die interessante Serie The Dropout, näher mit dem Theranos-Skandal befasst. Elizabeth Holmes wurde berühmt-berüchtigt als CEO des Medizin-Tech-Unternehmens Theranos und ist mittlerweile als Betrügerin entlarvt und verurteilt.

Jahrelang jedoch hielt sie ihr Publikum in Atem, indem sie rhetorisch eine Welt zeichnete, in der durch den von ihrem Unternehmen entwickelten Bluttest Krankheiten rechtzeitig erkannt würden. Und das, indem nur ‚ein Tropfen Blut‘ aus der Fingerspitze entnommen werde.

Holmes war oft sehr vage in ihrer Rhetorik, ungenau in ihrem Sprachgebrauch. Manchmal hat sie direkt gelogen, noch öfter hat sie die Dinge im Unklaren gelassen. Oft wurde nicht explizit, was ihr Unternehmen wirklich tat – oder was es nur tun könnte oder eventuell möglich machen würde.

Es gab 2 Welten in ihrem Unternehmen: In der mit Teppich ausgelegten Etage der Geschäftsführung wurde die Vision des revolutionären Bluttests an Investor:innen und Journalist:innen verkauft und durch TED-Talks in die Welt getragen.

Unten im gefliesten Labor funktionierten die groß gehypten Maschinen nicht – was die Labor-Mitarbeiter:innen ebenso gut wie die Geschäftsführung in Gestalt von Elizabeth Holmes wussten. Doch das hinderte sie nicht daran, tausende falsche Bluttests an nichtsahnende Kund:innen auszugeben – und damit genau die unschuldigen Leben in Gefahr zu bringen, die sie zu schützen vorgegeben hatte.

Demut hält das eigene Ego in Zaum.

Um die innere Grenze der Rhetorik in der eigenen Person zu sehen, braucht es Demut und Ehrlichkeit vor sich selbst; Selbstreflexion. Das bedeutet, sich einzugestehen: „Ich habe mich vergaloppiert.“ Oder: „Ich bin dabei, einen Fehler zu machen und anderen zu schaden.“ Oder: „Das sollte ich nicht sagen, weil ich XY damit verletze.“

Ohne diese Demut füllt das Ich ‚den ganzen Raum‘ und sieht nichts mehr außer die eigenen Ziele. Wenn wir vor und mit anderen sprechen, brauchen wir Demut und Einsicht, um dem eigenen Ego Grenzen zu setzen, um die anderen nicht als Objekte zu betrachten.

Ethos: Glaubwürdigkeit und Vertrauen hängen davon ab, ob jemand gut ist.

Es gilt, weise abzuwägen, ob das, was für uns selbst das Beste ist, auch die anderen im Blick hat. Das ist es, was Aristoteles unter Ethos versteht. Die Glaubwürdigkeit der redenden Person und das Vertrauen des Publikums ins sie hängen davon ab, ob sie ‘im Innersten’ gut ist, gerecht handelt und besonnen bleibt.

 

3. Grenze der Rhetorik: Das Publikum

Eine Sprechssituation, ob Rede oder Gespräch, ist keine Einbahnstraße. Wo im rhetorischen Kontext etwas gesendet wird, wird auch etwas empfangen. Und die Empfänger:innen von Sprechhandlungen sind keinesfalls nur willenlose Objekte, sondern denkende, das redende Gegenüber betrachtende, genau zuhörende Menschen.

Hier, in den Personen des Publikums, verläuft die dritte Grenze der Rhetorik. Pathos beschreibt nach Aristoteles den emotionalen Zustand des Publikums, die Gestimmtheit der Zuhörenden in der konkreten rhetorischen Situation.

Rhetorisches Handeln ist immer auf andere ausgerichtet.

Rhetorisches Handeln ist immer auf andere ausgerichtet, um auf sie einwirken zu können und Meinungen zu verändern. Und das ist erstmal auch total okay – solange es ‚auf Augenhöhe‘ passiert und dem Gegenüber Entscheidungsfreiheit zugesteht.

Sobald der Redner, die Rednerin, zu manipulieren und unlauter Einfluss zu nehmen beginnt, beginnt auch die ‚wirkliche Arbeit‘ für die Zuhörenden, um eine Grenze zu ziehen. Mindestens dann, wenn sie aktiv merken, dass eigene Werte und Überzeugungen mit der Wortgewalt des redenden Gegenübers zusammenprallen.

Noch ein bisschen mehr von Theranos …

Tyler Shultz, einer der Whistleblower des Theranos-Skandals, kannte Elizabeth Holmes durch seine familiären Verbindungen persönlich – und arbeitete im Labor. Er beschreibt in der Dokumentation ‚The Inventor: Out for Blood in Silicon Valley‘, wie sich zwei unterschiedliche Realitäten vor ihm auftaten: „Wenn ich das Testlabor bei Theranos verließ, dachte ich: 'Oh Mann, ein sinkendes Schiff'. Und dann hatte ich ein einziges Gespräch mit Elizabeth, und ich war so motiviert, zurückzugehen und zu arbeiten, dass ich das Gefühl hatte, die Welt wieder zu verändern. Man will so sehr, dass es wahr ist, und selbst ich habe jeden Tag mit diesen Geräten gearbeitet, und sie konnte mich trotzdem irgendwie überzeugen."

Er und Erica Cheung, die andere bedeutende Whistleblowerin des Theranos-Debakels, mussten vielfache innere und äußere Hindernisse überwinden, um endlich zu sagen: „Stopp! Da passt was nicht!“ „Das geht so nicht!“  

Sie mussten die Angst bewältigen, den Job und damit materielle Sicherheit zu verlieren, vor gerichtlichen Auseinandersetzungen, vor familiärem Zwist und Gegenwind aus der Presse.

Diese Grenze der Rhetorik muss immer wieder aufs Neue gezogen werden.

Es braucht Mut, um gegen eine rhetorische wie auch gegen eine wirtschaftliche Übermacht aufzustehen. Nicht nur in diesem medienwirksamen Fall, sondern überall dort, wo Unrecht geschieht. Wo Denken und Sprechen nicht übereinstimmen und sich das Handeln der Sprechenden gegen andere richtet.

Hier verläuft die dritte Grenze der Rhetorik – und sie muss von den Zuhörenden immer wieder aufs Neue aktiv gezogen werden.

 

Erst eine Rhetorik, die sich ihrer Grenzen bewusst ist, entfaltet wirklich ihre Wirkung.

Rhetorik ohne Grenzen ist eine brandgefährliche Sache; heute ebenso wie in der Antike. Denn sie kann schnell zu einer Sprache führen, die andere ausgrenzt, manipuliert und den Blick für alles außerhalb der ‘eigenen Welt’ verliert. Ohne Selbstreflexion und Charakterbildung kann Rhetorik ein Instrument sein, um das eigene Ego in immer neue Höhen zu treiben.

Umgekehrt entfaltet erst eine Rhetorik, die sich ihrer eigenen Grenzen bewusst ist, wirklich eine Wirkung: Denn sie orientiert sich nach außen und auf eine kooperative Beziehung zum Publikum hin.