12 Bücher, die ich 2022 gerne gelesen habe

 
 
 

2022 war ein Bücher-reiches Jahr für mich: Hier habe ich 12 Bücher zusammengestellt, die ich im vergangenen Jahr gerne gelesen habe, die ich spannend fand, die mich berührt haben. Es ist eine komplett subjektive Liste, die natürlich widerspiegelt, was mich interessiert und beschäftigt hat. Und genauso sehr, wie ich es liebe, Bücher zu lesen, mag ich es, sie zu empfehlen und meine Freude daran zu teilen.

Du findest in dieser Liste 8 Sachbücher und 4 Romane. Die Sachbücher passen sicher mehr zum Ton dieses Blogs und zu den anderen Themen hier - ohne Romane geht’s aber auch nicht: Sie sind das ‘Salz in der Suppe’.

Die wenigsten Bücher sind aus 2022 - aber das ist ja das Schöne, dass die meisten Bücher auch über ihr Erscheinungsjahr hinaus aktuell und interessant bleiben und wir so alle lange was von ihnen haben.

Am Ende jeder Rückschau auf das jeweilige Buch findest du einen Affiliate-Link zu ‘Buch7 - Der soziale Buchhandel’. Buch7 spendet 75% des Gewinns - und ich bekomme, wenn du ein von mir verlinktes Buch kaufst, eine minimale Provision. Also, im besten Fall: Eine Win-Win-Win-Situation.

Wenn du dich explizit für Bücher rund um die Themen Rhetorik & Kommunikation interessierst, schau mal bei diesem Blogartikel vorbei: 10 ultimative Rhetorik-Bücher, die ich dir empfehlen kann

Los geht’s mit meinen 12 Lieblings-Büchern, die ich 2022 gerne gelesen habe:


8 Sachbücher, die ich 2022 gelesen habe


No more bullshit

Das Handbuch gegen sexistische Stammtischweisheiten

Sorority (Hg.), u.a. Bettina Zehetner, Laura Wieböck, Stefanie Sargnagel

Ob am Stammtisch, in der Teeküche im Büro oder in Online-Foren: sexistische, rassistische oder klassifizierende Pseudo-Weisheiten können dir (leider) allerorten begegnen. Und oft machen sie erstmal sprachlos – und hinterher ärgerst du dich, dass dir der passende Konter nicht eingefallen ist oder du die Fakten, um diesen ‚Bullshit‘ zu widerlegen, nicht parat hattest.

Dieses Buch des branchenübergreifenden Netzwerks Sorority, das 2014 in meiner Heimatstadt Wien gegründet wurde, vermittelt im ersten Teil Strategien, wie du Bullshit entlarven kannst – und beantwortet auch die Frage, wann es sich überhaupt lohnt, zu kontern.

Im zweiten Teil werden Phrasen wie die folgenden auseinandergenommen: „Wir haben keine Frau* für das Podium gefunden“, „Ich bin für Humanismus, nicht Feminismus“, „Frauen* wollen ja gar nicht in Führungspositionen“ oder „Qualität statt Quote“.

Dazu gibt es Argumentationshilfen, die getragen werden von den Werkzeugen der Wissenschaft, Statistiken und einer guten Portion Humor. Die Kapitel können nacheinander oder in beliebiger Reihenfolge gelesen werden und liefern viele Inspirationen für die nächste Stammtischrunde.

Ein ideales Buch zum ‚Aufschlagen, Nachschlagen – und Zurückschlagen. Verbal, natürlich.‘

No More Bullshit - Das Handbuch gegen sexistische Stammtischweisheiten
Hg. Sorority, Kremayr & Scheriau, 2018

 

Panikattacken und andere Angststörungen loswerden

Wie die Hirnforschung hilft, Angst und Panik für immer zu besiegen

Klaus Bernhardt

Ein Thema, das in den letzten Jahren in meinen Rhetoriktrainings immer mehr Raum eingenommen hat, ist die Bewältigung von Sprechängsten. Sprechangst ist eine besondere Form der Sozialangst und sie kann auf verschiedenen Ebenen reduziert werden.

Ich schöre auf einen Mix aus Bewusstsein, Mentaltechniken, Übungen zur Erhöhung der Sprechfertigkeit, Atmung, Körpersprache. Und aus diesem Buch konnte ich einige weitere sehr praxisnahe und schnell wirksame Übungen mitnehmen.

Besonders gerne mag ich die 10-Satz-Methode, sowie die beschriebenen Stopp-Techniken für Ängste, die visuell oder auditiv ausgelöst werden. Außerdem sind die Warnsignale und Hintergründe von Angsterkrankungen anschaulich erklärt.

Das ist definitiv ein Buch, mit dem sich parallel zum Rhetoriktraining bei stärkeren Sprechängsten gut arbeiten lässt. Ich sage ja auch immer: Das wichtigste, um Sprechängste zu überwinden, ist der Wille, sich damit auseinanderzusetzen und ein klares, positiv formuliertes Ziel vor Augen zu haben, wie es ‚anders‘ sein soll.

Panikattacken und andere Angststörungen loswerden
Wie die Hirnforschun hilft, Angst und Panik für immer zu besiegen
Klaus Bernhardt, Ariston 2016

 

Dynamisch verhandeln

Entscheiden, was andere entscheiden

Hartwig Eckert & Andreas Kambach

Wir alle verhandeln ständig – am Meetingtisch mit Kund:innen, mit den Kindern übers zu-Bett-Gehen, in der Partnerschaft, mit der Chef:in über die nächste Gehaltserhöhung. Und allzu oft ‚verhaken‘ wir uns in festgefahrenen Positionen: Auf jedes Argument folgt ein Gegenargument, auf einen Angriff eine Verteidigung und auf eine Beschuldigung eine Rechtfertigung.

Diese ‚kommunikativen Werkseinstellungen‘ haben wir seit frühester Jugend trainiert – und sie führen nicht zu gemeinsamen Lösungen, sondern dazu, dass wir uns in den kommunikativen Schützengräben immer weiter eingraben.

Eckert & Kambach zeigen einen Weg auf, wie sich Verhandlungen dynamisch gestalten lassen, und zwar anhand zahlreicher Fallbeispiele und Beobachtungsübungen. So wird trainiert, schrittweise das vom Gesprächspartner zugestandene, das ‚konzedierte Territorium‘ abzustecken und mit zielführenden Fragen weiter zu positionieren.

Ich habe sehr profitiert von der Lektüre dieses Buches und höre seither noch genauer zu. Vor allem, wenn ein Satz ein ‚aber‘ enthält: Denn dann frage ich mich, was denn hier zugestanden wird – und fokussiere mich mehr auf den ‚Untertext‘ und die möglichen Lösungen. Ein sehr anwendbares Buch - und wirklich nützlich, um die eigenen Sprechmuster zu hinterfragen und um mit einer anderen Haltung in Gespräche zu gehen.

Hier kannst du übrigens einen TED-Talk von Hartwig Eckert zum dynamischen Verhandeln ansehen: Dynamic negotiating (auf Englisch)

Dynamisch verhandeln
Entscheiden, was andere entscheiden
Hartwig Eckert, Andreas Kambach, Ernst Reinhardt Verlag, 2019

 

Sprache und Sein

Kübra Gümüşay

Dieses Buch stand lange schon auf meiner Leseliste – und 2022 hab ich es endlich geschafft. Kübra Gümüşay zeigt auf, wie Denken und Sprache, Sprechen und Handeln zusammenhängen – und sich wechselseitig beeinflussen: „Was war zuerst da: unsere Sprache oder unsere Wahrnehmung?“ (S. 11) Sie schreibt politisch, persönlich, immer gut recherchiert – und so, dass es beim Lesen weh tut. Auf eine feine, wachmachende Art.

Denn hinter all dem Nachdenken über Sprache und die Art des Miteinander-Sprechens steht vor allem die Frage, wo wir miteinander hinwollen als Gesellschaft. Und ob wir bereit sind, individuell und kollektiv, Sprache und Sprechen zu hinterfragen – und zu verändern.

„Dieses Buch versteht sich als ein Beitrag auf der Suche nach einer Sprache, in der wir alle als Menschen gleichberechtigt existieren können, als ein Nachdenken auf dem Weg dahin, unsere Ideale einer besseren Gesellschaft zu verwirklichen.“ (S.182)

Ein Buch, das mich sehr bewegt hat – unbedingt empfehlenswert.

Sprache und Sein
Kübra Gümüşay, Hanser Berlin, 2020

 

Mit Ignoranten sprechen

Wer nur argumentiert, verliert

Peter Modler

In meiner Trainingspraxis begegne ich oft der Vorstellung, dass am Ende das bessere Argument gewinnt. Allein: Das stimmt nicht immer. Vielfach heißt es eher, dem Untertitel des Buches folgend: ‚Wer nur argumentiert, verliert.‘

Peter Modler führt aus, welche Aspekte die Kommunikation, gerade mit ignoranten Gesprächspartner:innen, noch beeinflussen, jenseits geschliffener Argumente.

Nicht alle Menschen bewegen sich in kommunikativen Systemen, die von inhaltlichen Argumenten und Zugehörigkeit geprägt sind; für manche sind eher die Parameter ‚Rang und Revier‘ entscheidend.

Das macht Modler z.B. an den Wahlkampf-Diskussionen von Hillary Clinton und Donald Trump fest – ebenso wie an vielen anderen Situationsbeschreibungen. Und er rät dazu, den ‚handwerklichen Switch‘ zu trainieren, um zwischen den kommunikativen Systemen wechseln zu können.

‚Mit Ignoranten sprechen‘ ist ein Buch, das sich schnell weglesen lässt, für einige, auch durchaus unterhaltsame Aha-Erlebnisse sorgt, und in den verschiedensten (z.B. stark hierarchisch geprägten) Kommunikationsbeziehungen sofort anwendbar ist.

Mit Ignoranten sprechen
Wer nur argumentiert, verliert
Peter Modler, Campus Verlag, 2019

 

Im Grunde gut

Eine neue Geschichte der Menschheit

Rutger Bregman

In diesem oft harten, krisengebeutelten Jahr 2022 tat etwas ‚Lese-Wärme‘ sehr gut. Dieses Buch hat mir eine Freundin zum Geburtstag geschenkt – und ich habe es, nachdem ich es zuerst kritisch beäugt und dann doch begonnen habe, sehr schnell durchgelesen. Es ist einfach auch so gut erzählt und spannend geschrieben!

Bregmans Blick auf die Menschen, durch neu betrachtete Quellen, geschichtliche Ereignisse und nochmal aufgerollte Experimente, wärmt das Herz – und verändert die Sicht auf die (Mit-) Menschen. Kapitel für Kapitel geht er der Frage nach, ob die Menschen nicht doch, entgegen weitläufiger Annahmen, ‚im Grunde gut‘ sind.

Folgende Fragestellung ist mir besonders im Gedächtnis geblieben:

„Ich kenne niemanden, der diese Idee besser erklären könnte als Tom Postmes, Professor für Sozialpsychologie in Groningen. Seit Jahren stellt er seinen Studenten immer die gleiche Frage: Ein Flugzeug muss notlanden und bricht in 3 Teile. Die Kabine füllt sich mit Rauch. Allen Insassen ist klar: Wir müssen hier raus. Was passiert?

  • Auf Planet A fragen die Insassen einander, ob es ihnen gutgehe. Personen, die Hilfe benötigen, bekommen den Vortritt. Die Menschen sind bereit, ihr Leben zu opfern, auch für Fremde.

  • Auf Planet B kämpft jeder für sich allein. Totale Panik bricht aus. Es wird getreten und geschubst. Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen werden niedergetrampelt.

Frage: Auf welchem Planeten leben wir? ‚Ungefähr 97 Prozent glauben, dass wir auf Planet B leben‘ sagt Postmes. ‚Aber tatsächlich leben wir auf Planet A.‘“ (S. 19/20)

Warum das so ist, dass wir als Menschen besser sind, als wir gemeinhin von uns selbst und auch den Mitmenschen glauben – und was passieren muss, damit sich die Menschen tatsächlich gegeneinander wenden und das Schlechteste von sich zeigen – das nimmt Bregman so fundiert wie unterhaltsam auseinander.

Wenn ich ein Sachbuch als Pageturner beschreiben würde, dann dieses!

Im Grunde gut
Eine neue Geschichte der Menschheit
Rutger Bregman, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2022

 

Das Zielsatz Prinzip

Wie Pointierung unsere Wirkung erhöht

Stefan Wachtel

Wenn nicht bloß informiert, sondern überzeugt werden soll, dann lohnt es sich, die Struktur einer Rede genauer anzusehen. Denn nicht immer gilt, dass das ‚Wichtigste zuerst‘ gesagt werden sollte. Stefan Wachtel schlägt vor, die Botschaften auf einen Zielsatz hin aufzubauen, sodass eine Art ‚kommunikativer Trichter‘ entsteht. So kann kürzer, prägnanter, eben: pointierter, geredet werden.

Ein Buch, zu dem ich eine durchaus ambivalente Beziehung habe: Auf der einen Seite konnte ich inhaltlich einiges Neues mitnehmen und finde es plastisch, verständlich geschrieben und gut verwendbar. Und auf der anderen Seite nervt in manchen Kapiteln der fortgesetzte Versuch des Autors, das Prinzip auch in der Schreib- und Darstellungsweise erneut durchzuexerzieren.

Und selten habe ich mich als Leserin durch die rückseitigen Lobpreisungen weniger repräsentiert gefühlt: Wie man es heutzutage schaffen kann, bei 9 Empfehlungen keine einzige Frau zu zitieren, ist mir schleierhaft: Vielleicht das nächste Mal ein paar Vorab-Exemplare auch an Frauen verteilen? Oder haben Sie ‚einfach keine Frau gefunden‘, die Ihr Buch lesen konnte, Herr Wachtel?

Dennoch kommt es, mit Knirsch, auf meine Sachbuch-Empfehlungsliste 2022, weil: Im Rhetorik-Kontext gut anwendbar.

Das Zielsatz Prinzip
Wie Pointierung unsere Wirkung erhöht
Stefan Wachtel, executive modus press, 2021

 

Alle_Zeit

Eine Frage von Macht und Freiheit

Teresa Bücker

Ich habe mir dieses Buch selbst zu Weihnachten geschenkt – denn als ich zum ersten Mal die Ankündigung sah, war mir sofort klar, dass ich es lesen muss. Schließlich bin ich seit Jahren, bislang im Geheimen, ein ‚Fan-Girl‘ von Teresa Bücker.

Dieses war das letzte Buch, das ich 2022 gelesen habe – und es ist gleichzeitig meine größte Empfehlung: Lies es unbedingt in 2023. In 2024. In jedem noch folgenden Jahr. Nimm dir die Zeit dafür.

Teresa Bücker schreibt über Zeit: Arbeitszeit, Zeit für Care(arbeit), freie Zeit, geteilte Zeit und Macht mit Kindern, Zeit für Politik. Warum die Zeit gefühlt so oft fehlt und was wir alle dagegen tun können. Was es braucht, individuell und gesellschaftlich, damit wir anderes mit der Zeit umgehen können – eben freier und gerechter.

Dieses Buch hat mich sehr berührt und aufgewühlt: Spätestens seitdem ich Mutter bin, habe ich beständig den Eindruck, ‚keine Zeit‘ zu haben. Immer gehetzt zu sein, immer noch mehr Zeit ‚für mich‘ zu brauchen – und nie genug davon zu bekommen, immer müde zu sein und ständig nur zwischen Erwerbs- und Carearbeitszeiten zu switchen.

So habe ich mich mit meinen Zeitproblemen und Zeitsehnsüchten auf jeder einzelnen Seite des Buches beschrieben gefühlt. Oft bis zu einem Grad, dass ich tief durchatmen und das Buch kurz sinken lassen musste. Weil ich plötzlich meine Zeit-Bedürfnisse viel stärker gespürt habe und das weh getan hat; es den Raum dafür gerade nicht gibt.

Gleichzeitig war ich erleichtert, das alles zu lesen, weil ich begreifen konnte: Nein, ich bin nicht die einzige, die es nicht hinbekommt, ‚alle Zeitbedürfnisse unter einen Hut‘ zu bringen. Das ist (auch) ein strukturelles Ding; es geht um Zeitgerechtigkeit für alle und darum, Zeit in unserer Gesellschaft anders zu gestalten und neu zu verteilen.

Es ist, eben: Eine Frage von Macht und Freiheit.

“Zeit ist ein Thema, das alte Macht aufbrechen kann und ein Anliegen feministischer Bewegungen erfüllt: nämlich möglichst vielen Menschen mehr Handlungsoptionen zu bieten und damit neue Freiheitsgrade eines selbstbestimmten Lebens.” (S.324)

Außerdem habe ich nach der Lektüre des Buches endlich wirkungsvolle Worte, um die unterschiedlichen ‚Zeiten‘, meine Zeitnöte und Zeitbedürfnisse zu benennen und auch gedanklich zu trennen, in welcher Zeit ich mich gerade befinde.

Das geht bis hin zu dem Begriff ‘Zeitkonfetti’, den ich neu kennengelernt habe. Er beschreibt kleine und kleinste, scheinbar ‘freie’ Zeiteinheiten, die so ‘rumschwirren’ und in denen es höchstens möglich ist, kleine Dinge zu machen. Wie einen kurzen Artikel im Internet zu lesen oder 2 neue Fotos ins Online-Fotobuch einzufügen. Doch Zeitkonfetti-Momente sind eben zu kurz, um wirklich tief in Dinge einzutauchen oder für einen Erholungseffekt.

Wir alle brauchen:

“Auszeiten, Nachdenkzeiten, Zeit für Freund_innen, Care-Zeiten oder Familienzeiten, Zeit, um Gefühle zu spüren und auszuhalten, Zeit für Genesung, Zeit für Kultur, Ehrenämter und politisches Engagement, offene und unverplante Zeiten - all das sind produktive Zeiten, nur nicht im Sinne direkter wirtschaftlicher Wertschöpfung. Sie bringen Dinge hervor. Sie sind der Stoff, aus dem unsere Freiheit besteht. Sie müssen nicht verdient werden, sie stehen uns zu.” (S.189)

Dieses Buch wird deinen Blick auf Zeit, wie du Zeit nutzt, wie du Zeit erlebst und gestaltest, verändern. Mein Sachbuch-Highlight 2022.

Alle_Zeit
Eine Frage von Macht und Freiheit
Teresa Bücker, Ullstein, 2022


4 Romane, die ich 2022 gelesen habe


Lügen über meine Mutter

Daniela Dröscher

Dieses Buch beschreibt eine Kindheit in der BRD der 80er, aus den Augen der Tochter, mit Blick auf die stark übergewichtige Mutter. Diese so engagierte und sorgende Mutter scheint nämlich durch die Brille des Vaters ein ganz anderer Mensch zu sein – und durch ihr Übergewicht verantwortlich für alles, was ihm selbst in seinem Leben nicht gelingt.

Dieses Buch habe ich im Laufe von 2 Tagen ‚durchgefressen‘: Wie Daniela Dröscher diese dysfunktionale Familie in all ihren alltäglichen Abgründen beschreibt, tut weh. Gerade, weil mir, selbst ein Kind der 80er, dieser schiefe Blick ‚von außen‘ auf einen weiblichen Körper, die soziale Kontrolle desselben, in so vielen Aspekten so bekannt vorkam. Und gleichzeitig ist das Buch warm, liebevoll und auch humorvoll – ein schnelles Lesefest.

„Das Idealbild meines Vaters: Vater, Mutter, Kind, allesamt schön und schlank. Schöne, schlanke, gesunde Menschen, die in einem schönen Haus wohnen. In gewisser Hinsicht hat mein Vater meine Mutter zeitlebens mit einem Haus verwechselt. Nur dass man an einem Haus ungefragt Verschönerungen vornehmen kann, am Körper eines anderen Menschen nicht.“ (S.164)

Lügen über meine Mutter
Daniela Dröscher, Kiepenheuer & Witsch, 2022

 

Insel der verlorenen Erinnerung

Yoko Ogawa

Dieses Buch war ein Überraschungsbuch aus meinem Buch-Abo der Buch-Box – und vielleicht das, was mich 2022 am meisten berührt und umgetrieben hat. Ein ganz stilles, feines Buch mit einem sehr reduzierten Figurenpersonal.

Die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin, lebt auf einer nicht näher definierten Insel, auf der immer wieder Dinge verschwinden. Plötzlich liegt so eine Stimmung in der Luft – und es ist wieder etwas zum Verschwinden verdammt. Die Menschen bringen dann diese Gegenstände zum Fluss oder verbrennen sie – und dann verschwinden sie auch aus der Erinnerung.

Neben der Erzählerin werden nur ein alter Mann und ihr Lektor näher charakterisiert, der allerdings die Fähigkeit besitzt, sich zu erinnern und deswegen vor der Erinnerungspolizei versteckt werden muss.

Das autoritäre Regime, in dem sie alle leben, bleibt unscharf. Was aber sehr plastisch wird, ist, was es mit den Menschen macht, wenn plötzlich immer mehr Dinge verboten sind und verschwinden – und wie die staatliche Kontrolle bis in die Körper hineinregiert.

Ein wirklich gutes Buch. Mein Roman-Highlight in 2022.

Insel der verlorenen Erinnerung
Yoko Ogawa, Aufbau Verlag, 2022

 

Hier sind Löwen

Katerina Poladjan

Ein Buch, in dem die Hauptfigur ein Buch restauriert – klar, dass mir das mit meiner großen Bücher-Liebe gefällt, oder?

Helen reist nach Armenien, wo sie eine alte Familienbibel restauriert, die das einzige war, was die Geschwister Hrant und Anahid 100 Jahre zuvor auf ihrer Flucht mitgenommen haben. Während der Zeit des Restaurierens setzt sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte, mit dem Land und den Menschen dort auseinander.

Katerina Poladjan verwebt die Gegenwart im modernen Armenien mit der Vergangenheit des Völkermords an den Armeniern auf der anderen Seite des Ararat.

Spannend geschrieben und auch ein bisschen zauberhaft: Wie so ein Buch Menschen quer durch die Jahre miteinander verbindet … Habe ich gerne gelesen und bin danach stundenlang in Wikipedia-Artikeln zu Armenien und dem Völkermord abgetaucht. Ein für mich wichtiges Buch, das mich dem Land nähergebracht und Reisesehnsucht geweckt hat.

Hier sind Löwen
Kateria Poladjan, Fischer Taschenbuch, 2022

 

Bleib bei mir

Elizabeth Strout

Durch den frühen Tod seiner Frau bleibt der Pastor Tyler Caskey plötzlich mit 2 kleinen Kindern allein zurück und stürzt in eine tiefe Lebenskrise.

Er, der immer dieses ‚Gefühl‘ der Nähe zu Gott hatte, verzweifelt zunehmend – und kann Gott nicht mehr spüren. Er verliert seine Gabe, vor Leuten zu sprechen und für immer mehr Mitglieder seiner Gemeinde wird er ‚seltsam‘. Sie fangen an, über ihn zu reden und zweifeln seine Eignung als Seelsorger und Vater an.

Das ist ein Buch, das ich eher langsam gelesen habe, in das ich mich immer wieder ‚zurückkämpfen‘ musste. Das ist weggelegt habe – und bei dem ich froh bin, dann doch drangeblieben zu sein. Es ist ein Buch über eine Lebenskrise, über Einsamkeit, über einen Zusammenbruch – und ein neues Hoffnung-Schöpfen und sich-wieder-Aufrappeln.

Es passiert nicht viel, alle Figuren sind sehr eckig-kantig und es ist immer Winter – und doch: Ich mochte es schlussendlich sehr. Weil es ganz ‚undramatisch‘ und sehr ehrlich von einer wirklich großen Krise erzählt – und dass es danach doch, irgendwie, weitergeht. Schritt für Schritt.

Bleib bei mir
Elizabeth Strout, btb, 2018

 

Soweit zu den Büchern, ob Sachbuch oder Roman, die ich 2022 gerne gelesen habe. Ich hoffe, es war auch etwas Interessantes für dich dabei. Mal sehen, was nun 2023 auf meinem Büchertisch landen wird …

Übrigens: Alle hier genannten Bücher wurden von mir selbst ausgesucht und bilden meine eigene Meinung ab: Ich wurde weder von den Autor:innen, noch von den Verlagen dafür bezahlt. Wo sie über die Verlagsseiten verfügbar waren und zum rechtssicheren Download bereitgestellt wurden, habe ich die Cover-Bilder eingefügt.