100 Jahre Frauenwahlrecht: Wofür ich streite

 
Frauenwahlrecht. Rhetorik Training.png
 

Ich erinnere mich nicht mehr genau an mein ‚erstes Mal wählen‘. Es war die österreichische Nationalratswahl 2002 – da war ich 19 Jahre alt. Ich habe damals nicht in Frage gestellt, dass ich wählen gehen durfte.

Ich bin einfach hingegangen, habe mein Kreuz gemacht – und bin dann so schnell wie möglich wieder zu anderen Dingen zurückgekehrt. Das Wahlrecht war für mich eine Selbstverständlichkeit. Mit Politik habe ich mich damals eher ‚im Vorbeigehen‘ beschäftigt.

 

100 Jahre Frauenwahlrecht: ein Grund zum Feiern.

Wahrscheinlich war mir in dem Moment nicht bewusst, dass es damals erst 84 Jahre her war, dass Frauen überhaupt wahlberechtigt waren. Seit meinem ersten Gang an die Wahlurne sind weitere 16 Jahre vergangen. Und am heutigen 12. November 2018 ist es soweit: wir feiern 100 Jahre Frauenwahlrecht. 100 Jahre sind auf der einen Seite eine lange Zeit – und gleichzeitig fast nichts im Verhältnis der Menschheitsgeschichte.

Als vor 100 Jahren Frauen endlich das aktive und passive Wahlrecht in Deutschland und auch in Österreich erkämpft hatten, war dies das Ergebnis eines jahrzehntelangen Prozesses. Mindestens bereits seit den 1840er Jahren haben sich Frauen für das Recht auf Mitbestimmung stark gemacht und die politische Unmündigkeit der Frauen immer wieder als Skandal angeprangert.

1918 konnten sie sich erfolgreich Gehör verschaffen – der Chor der Frauenstimmen war endlich laut und stark genug.

 

Frauenwahlrecht bedeutete noch nicht Gleichberechtigung…

Doch allein das Frauenwahlrecht führte noch keine Gleichberechtigung ein: also dass allen Geschlechtern vor dem Gesetz die gleichen Rechte zugestanden wurden. Erst 1949 wurde die Gleichberechtigung von Frau und Mann in Deutschland auch in die Verfassung geschrieben.

Und mit den ‚erst‘-Formulierungen geht es jetzt noch ein bisschen weiter.

Erst 1962 durften Frauen ein eigenes Konto eröffnen. Erst seit 1977 dürfen Frauen ohne Einwilligung des Ehemannes einen Arbeitsvertrag unterschreiben. Seit 1997 erst ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar.

Das Frauenwahlrecht war 1918 sicher der Beginn all dieser Entwicklungen. Gleichzeitig bedeutet das aber auch noch lange nicht, dass nun gleich viele Frauen und Männer in den Parlamenten sitzen.

Von 50% sind wir weit (und nach der letzten Bundestagswahl 2017 wieder ein bisschen weiter als davor) entfernt. Parlamente sind nach wie vor vornehmlich Männerbastionen: sie sind überall in der Mehrheit. Und das, obwohl 2017 rund eine Million mehr Frauen stimmberechtigt waren als Männer.

 

‘Was regst du dich denn eigentlich auf? Was wollt ihr denn noch alles?’

Wenn ich in den Jahren rund um meinen ersten Wahlgang in der Schule oder an der Uni (Ende 90er und Anfang des neuen Jahrtausends) noch relativ zaghaft angesprochen habe, dass im Geschlechterverhältnis noch lange nicht alles eitel Wonne Sonnenschein ist, habe ich mehr als einmal gehört: ‚Was regst du dich denn auf: Ihr (Frauen) seid doch eh gleichberechtigt?‘

Meine Antwort, was genau ich dazu denke und woher mein Unrechts-Empfinden kommt, wurde dann meist gar nicht mehr angehört. Ich war schneller mundtot, als ich ‚ungleiche Machtverhältnisse‘ sagen konnte. Im Nachhinein bin ich mir auch nicht sicher, ob ich es hätte formulieren können.

Zum Argumentieren braucht frau Fakten, und selbst dann ist es oftmals schwierig genug. Eine persönliche Geschichte allein von subjektiven Erfahrungen reicht oft nicht aus, um in ungleichen Machtverhältnissen wirklich gehört zu werden.

Der Erfolg von #metoo liegt sicher daran, dass eine riesige Anzahl von Frauen öffentlich über ihre Erfahrungen mit Sexismus gesprochen haben – eine so riesige Menge an Frauenstimmen, die von ähnlichen Erlebnissen berichten, ist dann doch schwer mundtot zu machen. Doch davon war rund um 2000 noch lange nichts zu ahnen…

Mittlerweile habe ich mir auch viele, viele Fakten rund um Gleichstellungs-Themen angelesen. Es wird leichter für mich, zu argumentieren. Doch wann immer ich an das Thema aus meiner persönlichen Sicht denke, höre ich einen Satz meines Vaters, der reingehauen hat: ‚Frauen müssen nicht studieren – die heiraten später, kriegen Kinder und dann ist es rausgeschmissenes Geld.

Dieser Satz fiel, als ich etwa 15 war… Ich war damals überzeugt, keine Kinder haben zu wollen. Da wurde mir gesagt, das werde sich beizeiten ändern und ich würde dann zu Hause bleiben. Ich sag nur: Österreich, rund um die Jahrtausendwende.

Natürlich habe ich studiert – und trotzdem immer den Eindruck gehabt, ein bisschen härter arbeiten zu müssen als andere. Nicht zuletzt, um meine Motivation und Berechtigung zu beweisen. Und als ich dann tatsächlich selbst Mutter wurde, hatte ich immer die Befürchtung, dass nun meine innere Vater-Stimme irgendwie doch recht haben würde…

 

Noch so viel zu sagen, zu diskutieren, zu erstreiten…

Ein Kind habe ich also mittlerweile– aber das hat für mich nicht bedeutet, dass ich ‚zu Hause bleibe‘. Trotzdem hat meine neue Familiensituation zu großen beruflichen Umstellungen geführt. Statt als Regisseurin arbeite ich jetzt als Rhetorik Trainerin: ich begleite Frauen dabei, rund um herausfordernde Kommunikations-Situationen kraftvoll ihre Stimme zu erheben, ihre Meinung zu sagen und ihr Wissen zu teilen. Tagtäglich erlebe ich jetzt: wir haben noch so viel zu reden, auszudiskutieren und zu erstreiten!

Öffentliche Positionen und Sitze im Bundestag sind genauso wenig paritätisch verteilt wie Speaker*innen-Slots auf Konferenzen, Regie-Aufträge oder Sitze in Unternehmens-Vorständen. Denn Frauenwahlrecht und Gleichberechtigung führen noch nicht automatisch zur Gleichstellung.

 

Wahlrecht und Gleichberechtigung führen noch nicht zu Gleichstellung.

Da befinden wir uns noch immer im Prozess: der könnte verschiedenen Statistiken zufolge noch 80-200 Jahre lang dauern. Gleichstellung bedeutet nämlich, dass alle Geschlechter über die gleichen rechtlichen, sozialen und persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten verfügen.

Faktische Gleichbehandlung und Gleichheit müssen aktiv gefördert werden: das beginnt bei der Bekämpfung des Gender Pay Gaps und hört bei geschlechtergerechter Sprache noch lange nicht auf.

Und natürlich gehört auch dazu, dass sexistische Beleidigungen und sexuelle Gewalt endlich der Vergangenheit angehören. Ich kenne einige Frauen, die sich nur mit äußerster Vorsicht durch die Nacht bewegen und dabei immer den Schlüssel aufgefächert zwischen die Finger geklemmt haben. Fast alle haben wir Erfahrungen mit Formen sexueller Übergriffe gemacht oder kennen Sprüche von ‚hab dich doch nicht so‘ bis ‚war doch nur ein Scherz…‘.

Sicherlich: es hat sich in den vergangenen 100 Jahren so viel für Frauen bewegt, wie in Hunderten Jahren vorher nicht. Das ist erfreulich und von der Tendenz her begrüßenswert. Doch wir sind noch lange nicht am Ziel von wirklicher Gerechtigkeit und Chancengleichheit in allen Bereichen des öffentlichen und sozialen Lebens.

Gerade gibt es eine Kampagne zur Feier von 100 Jahren Frauenwahlrecht. Auf Plakatwänden werden Frauen zitiert, die damals für das Frauenwahlrecht aktiv gekämpft haben. Auf einem der Plakate ist ein Spruch von Helene Lange zu lesen, einer Pädagogin und Frauenrechtlerin:

‚Dass die Männer die Interessen der Frauen wahren, ist Fiktion.‘

Darüber hinaus stellt die Kampagne die Frage: ‘Wofür streitest du?‘

Es geht nicht ‘ganz selbstverständlich’ immer weiter nach vorne. Wir müssen was dafür tun.

Ich bin überzeugt davon, dass Helene Lange leider recht hat. Und wir leben noch nicht in einer Welt, in der Gleichstellung erreicht ist. Aktuell sitzen in allen Rathäusern bundesweit nur 10 % Bürgermeisterinnen. Im Bundestag sind gerade nur 30,9% Frauen – das ist der niedrigste Wert seit 20 Jahren. Und wir blicken noch immer auf einen Gender Pay Gap von 21 %...

Wir können uns nicht darauf verlassen, dass sich Gleichstellung schon ‚irgendwie‘ regelt oder dass es immer nur weiter nach vorn geht. Wir müssen dafür einstehen und darauf bestehen, dass die Themen Gleichstellung und Frauenrechte auf die Agenda gelangen – und auch dort bleiben.

Dieser Tag heute ist wichtig, um dankbar auf die Entwicklungen der letzten 100 Jahre zu blicken. Dankbar für all die Frauen, die mutig vorangegangen sind. Die gestritten haben, die sich immer wieder zu Wort gemeldet und den Mund aufgemacht haben – so lange, bis sie nicht mehr überhört werden konnten und die Welt endlich ein Stück gerechter wurde.

Vielen Dank, liebe Helene Lange, Clara Zetkin, Hedwig Dohm, Marie Juchacz und all ihr vielen vielen vielen anderen, die ihr mitmarschiert seid.

 

Die nächsten 100 Jahre Frauenrechte im Blick

Frauenwahlrecht. Rhetorik Training.png

Gleichzeitig ist es entscheidend, dass wir die nächsten 100 Jahre in den Blick nehmen. Und weiter streiten: für wirkliche Gleichstellung. Für uns selbst und alle Frauen, die nach uns kommen. In 100 Jahren wird es hoffentlich wieder Feierlichkeiten geben.

Wie schön wäre es, wenn die Frauen dann gleich bezahlt werden, ohne Angst in der Nacht von A nach B gehen, wirklich nur ihren Teil der Haus- und Familienarbeit erledigen und in allen Positionen in Wirtschaft, Politik und Kultur zu 50% vertreten sind.

Ich kann mir kaum vorstellen, was für weitreichende Konsequenzen das für die gesamte Gesellschaft haben würde: aber es klingt nach einer Gesellschaft, in der ich gerne leben möchte. Und in der Menschen miteinander noch so viel mehr schaffen können – wenn sie das erst geschafft haben.

Dafür streite ich, dafür setze ich mich ein.
Und du?