Was ist Präsenz?

 
Präsenz. Rhetorik Training.png
 

Auf den ganz analogen Bühnen dieser Welt (im Unterschied zu den digitalen, auf denen sich die Aufmerksamkeits-Maschinerien immer schneller drehen) ist seit über 400 Jahren ein bestimmter Satz ein Dauerbrenner. Auf wie vielen unterschiedlichen Brettern, die die Welt bedeuten, der wohl schon gesagt wurde... Du kennst ihn sicher: 

'Sein oder Nichtsein: Das ist hier die Frage...'

Dieser Satz vom großen Shakespeare hat sich festgesetzt in unserem kollektiven Bewusstsein. Er bringt die Frage nach Aktion, Präsenz und Sichtbarkeit auf eine klare, einprägsame Formel.

Bin ich ‚da’ – oder bin ich ‚nicht da’?

In Bezug auf Auftritte wird viel über 'Präsenz' gesprochen. Jemand ist präsent – oder eben nicht? Aber was genau ist Präsenz überhaupt?

 

Wir sind präsent, wenn wir die Gegenwart bewusst wahrnehmen.

Es ist schwierig, etwas zu beschreiben, was sich oft als sehr flüchtig erweist. Wir alle sind immer wieder präsent – und rutschen ebenso schnell aus diesem Zustand wieder raus, leider.

Präsenz ist bewusst wahrgenommene Gegenwärtigkeit. Wir sind präsent, wenn wir uns  im Hier-und-Jetzt befinden. 

 

Präsenz ist unser Urzustand.

Alle Schauspieler*innen, Redner*innen, Vortragende und künstlerische Akteur*innen brauchen diese besondere Qualität des Seins, um wirklich ‚anwesend’ und ‚verbunden’ handeln zu können.

Ach, wir alle brauchen das. Wir haben das nur allzu oft vergessen ...

Wenn wir im Hier und Jetzt agieren, entsteht eine besondere Energie des Austauschs und des in-Beziehung-Seins. Wir sind dann mit dem Außen verbunden: mit dem Publikum und dem Raum um uns herum. Außerdem verbindet uns Präsenz mit uns selbst: mit unserem Körper, dem Atem, unseren geistigen Bewegungen.

 

Eine stimmige Erklärung von Präsenz

Das beste Erklärungskonzept von Präsenz, das ich kenne, stammt von Patsy Rodenburg, einer inspirierenden Schauspiel- und Stimm-Trainerin.

Rodenburg zufolge gibt es 3 verschiedene Energie-Kreise. Wir brauchen alle drei und bewegen uns ständig unbewusst zwischen ihnen hin und her. Doch wir können auch intentional zwischen ihnen wechseln. 

 

Zurück in die Vergangenheit

Im ersten Energie-Kreis fällt alles, was wir sagen und tun, in uns zurück. Wir geben unsere Worte und Gedanken nicht wirklich 'nach außen' ab – irgendwie bleibt alles in uns drin, auch wenn wir mit anderen kommunizieren.

In dieser gedrückten, zurückgenommenen Energie sind und fühlen wir uns nicht wirklich mit anderen verbunden.

Wir stecken fest in unseren eigenen Empfindungen, Wertungen und Gedanken. Manchmal verfangen wir uns mit dieser Energie auch in einer Opferhaltung: "die anderen sind schuld, dass es nicht gut läuft." Dieser Energie-Kreis zieht uns zurück in die Vergangenheit. 

 

Schnell in die Zukunft rein

Der dritte Kreis bringt uns in eine Energie, die pausenlos schreit: „Raus, schnell, beeil dich, machen, tun – aber dalli dalli!“

Es ist eine Energie, die sich fast überschlägt vor Tatendrang, Ungeduld – und innerem wie äußerem Druck. Dann nehmen wir zu viel Raum ein und die Stimmen werden laut.  Angestrengt versuchen wir, alles um uns her zu kontrollieren.

Diese Art von Energie pulsiert zwar – aber alles bleibt oberflächlich und fahrig. Sie fühlt sich an, als würden wir versuchen, zehn Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten - ohne einen einzigen richtig zu berühren.

Mit dieser Energie verlieren wir uns zwischen all den Sachen, die noch erledigt werden sollten und den wabernden Gedanken an Zukünftiges.

Was passiert: wir werden weggezogen von dem, was gerade ist – in die Zukunft hinein. Ins Planen, Denken, schnell-noch-dies-und-das-Erledigen

Präsenz ist gegenwärtiges DA-Sein

Zwischen Vergangenheit und Zukunft steht im zweiten Kreis die Gegenwart. Man sollte meinen, dass es das Einfachste ist, sich im Hier und Jetzt zu befinden. Doch gerade in unserer schnelllebigen, von ‚Anforderungen’ dominierten Welt, wird es oft zur schwierigsten Übung.

Dabei kommen wir als absolut präsente Wesen auf die Welt und verbringen unsere ersten Jahre in diesem Zustand.

Hast du schon mal ein dreijähriges Kind erlebt, das sich mit Gedanken an die Vergangenheit quält? Oder das die morgige To-Do-Liste abarbeitet? 

Deswegen haben Kinder auch diesen absoluten Riecher dafür, ob wir nur physisch anwesend, oder für sie und mit ihnen präsent sind.

 Am Theater gibt es den Spruch:

'Neben kleinen Kindern hast du auf der Bühne keine Chance.'

Das gilt übrigens auch für Tiere: ich habe komplette Szenen baden gehen gesehen, weil die Darsteller*innen unsichtbar wurden neben einem Hund oder einem Huhn.

All diese Wesen machen sich eben keine Gedanken übers Gestern oder Morgen. Sie sind einfach da und ziehen dadurch alle Blicke auf sich.

Das ist Präsenz. 

Wir fliegen immer öfter aus dem Kreis der Gegenwart raus, wenn wir aufwachsen und älter werden. Unsere Gedanken ziehen uns fort von dem, was gerade ist - und wenn wir nicht aufpassen, bestimmen sie unser gesamtes Sein. 

 

Präsenz lässt sich wieder-lernen.

Präsenz lernen. Rhetorik Training.png

Oft müssen wir dann erst wieder lernen, präsent zu sein. Das ist auch das Ziel ernsthaften Schauspiel-Trainings und verschiedenster Meditations-Arten.

So erfahren wir aufs Neue, uns bewusst im Jetzt einzufinden und wieder wahrzunehmen, was gerade ist. 

Wenn wir präsent sind, sind wir absolut auf eine Sache fokussiert. Wir sind mit dem verbunden, was wir gerade tun. Wir spüren und wissen, dass wir jetzt sind.

Alles in diesem zweiten Kreis atmet eine besondere Gelassenheit. Und das trotz aller Muskeln, die vielleicht zwicken oder Ängsten, die uns umtreiben. Wenn wir präsent sind, kann unser Bewusstsein alles mit umfassen - und es da-sein lassen.

 

ALL WE HAVE IS NOW.

Präsenz ist wie ein verfeinerter Wahrnehmungs-Modus. In diesem Zustand können wir uns selbst und der Außenwelt wirklich begegnen. Wir wissen: „Ich bin jetzt hier.“ An keinem anderen Ort – oder irgendwo anders lieber, besser, schöner: sondern hier.  

Wenn wir dieses Jetzt spüren, mit jeder Facette – dann sind wir präsent, gegenwärtig.

 

Mit Präsenz begegnen wir dem Leben im Moment.

Ich werde für mich selbst sichtbar, wenn ich diese besondere Energie spüre. Sichtbar im eigentlichen Sinne. Dann muss ich nicht mehr darüber nachdenken, warum und wodurch ich die geworden bin, die ich heute bin. Ich denke auch nicht darüber nach,  was ich noch alles passieren soll.

Mit Präsenz kann ich einfach sein und Menschen wirklich begegnen – mit aller Stärke, Gelassenheit und Schönheit, die ich gerade mitbringe.

Präsenz vereint für mich die Qualitäten von Geduld, Vertrauen und einer offenen Großzügigkeit. Präsent zu sein bedeutet, loslassen zu können: die Gedanken an all das, was war – und was noch kommen wird. Dann bin ich offen, zu empfangen – und sichtbar zu werden. Etwa in der Arbeit, die ich liebe:

Ich fühle mich präsent, wenn ich Menschen helfe, auf den unterschiedlichsten Bühnen redend gesehen und wahrgenommen zu werden. Wenn ich unterstützen kann, die richtigen Worte für Gedanken, Projekte, Themen und Erkenntnisse zu finden. Wenn ich dabei sein darf, wie jemand klar und präsent kommuniziert – und sich mit dem Publikum verbindet.

 

Wenn sich Präsenz ausdehnt

Es ist mit jeder Faser spürbar, wenn sich Präsenz in einen Raum hinein ausdehnt – und alle den Moment miteinander teilen. Wenn Begeisterung ansteckt, eine Idee von Kopf zu Kopf springt und alle Lichter plötzlich gleichzeitig angehen.

Es erfüllt mich mit Freude und diesem grandiosen Bewusstsein des Da-Seins, wenn ich so einen Augenblick beobachten, erleben und mitgestalten darf. Einen Moment, in dem wir alle ein Stück sichtbarer werden. Weil wir miteinander verbunden sind. 

Also, um Hamlets Frage aufzugreifen: eindeutige Entscheidung für das Sein – auf der Bühne, im Leben, in jedem bewusst wahrgenommenen Moment. Jetzt. Hier.

Gegenwärtig – da strahlt unser aller Licht. 

 

Anm.: Die Digital Media Women, die sich 'für mehr Sichtbarkeit von Frauen auf allen Bühnen' einsetzen,  haben in ihrer Blogparade 2016 die Frage gestellt: #sichtbar: wie bringst du dein Licht zum Strahlen? Wenn es um Frauen, Sichtbarkeit und Bühnen geht, musste ich natürlich mitschreiben. Diesen schon etwas älteren Blogbeitrag habe ich nun überarbeitet und neu online gestellt.